Der Fahrstuhl
Sie steht im leeren Flur des Verwaltungsgebäudes. Der alte Steinboden glänzt matt. Hinter den geschlossenen Türen hört man leises Sprechen, das Klingeln eines Telefons. Sie nagt an einem Fingernagel. Soll sie nun den Aufzug benutzen oder nicht? Im ungünstigsten Fall wären schon andere Menschen in der Kabine, Menschen mit umherfliegenden Hautschuppen, schwitzende, riechende Menschen. Womöglich wäre sie gezwungen, einen von ihnen mit dem Ärmel zu berühren. Sie schüttelt sich. Dann müsste sie auch ihre Kostümjacke in die Reinigung bringen lassen. Eine Dusche für sie selbst wäre in jedem Falle nötig.
Menschen sind schmutzig, stellt sie wieder einmal fest. Sie hört das Surren der Kabel, die die Fahrgastkabine näher zu ihr bringen. Andererseits: Sie ist im 7. Stock und sie ist hungrig. Es ist bereits kurz vor 12. Mittagszeit. Jetzt würde der Aufzug wahrscheinlich noch leer sein. Wenn sie noch länger hier stünde, würden alle Verwaltungsangestellten mit ihren unvermeidlichen Mahlzeit-Rufen die Flure und den Fahrstuhl überschwemmen und sie könnte noch nicht einmal gefahrlos über die Treppe entkommen.
Die Fahrstuhltür öffnet sich mit leisem Ächzen. Sie späht nervös in die Kabine. Eine Frau steht darin, eine junge Mutter, mit einem Baby auf dem Arm. Der Kinderwagen vor ihr ist leer. Der Aufzug ist ausgerichtet auf 10 Personen. Platz genug also für zwei Leute, denkt sie, oder zweieinhalb. Sie kichert nervös. Mit festem Schritt steigt sie ein, zielstrebig in die Ecke, die am weitesten von der jungen Frau entfernt ist. Der Geruch nach Babypuder und feuchten Windeln schlägt über ihr zusammen und einen Moment schließt sie die Augen, bis der Boden unter ihren Füßen wieder fest wird und ihre Geruchsnerven sich gewöhnt haben.
Sie schaudert innerlich und nimmt sich vor, nicht einen Blick nach rechts zu werfen. Sie hört lallende, gurgelnde Geräusche des Babys und stellt sich vor, wie lange, klare Speichelfäden auf den Boden tropfen, direkt neben ihre schwarz glänzenden Lederpumps. Sie schaudert. Sie versucht sich auf ihr Badezimmer zu konzentrieren, auf die Klarglasdusche, die tropfenfrei und blitzend auf sie wartet. Sie stellt sich den reinigenden heißen Wasserstrahl vor, der auf ihre Haut trifft und diese Fahrstuhlfahrt von ihr abwaschen wird.
Ihre Gedanken werden unterbrochen, mit einem Ruck. Der Ruck ist real, der Fahrstuhl steht. Ein blinkendes Licht zeigt an, dass der Fahrstuhl mitten auf der Strecke anhält. Sie stecken fest! Es gelingt ihr, den Anflug von Panik zu unterdrücken. Es ist schließlich Mittagszeit, mitten in der Woche, jede Sekunde wird jemand bemerken, dass mit dem Fahrstuhl etwas nicht stimmt und den Hausmeister informieren. Sie ist sicher, dass die Fahrt in wenigen Minuten fortgesetzt wird.
„Hilfe, bitte helfen Sie mir, mir wird…“, hört sie noch ein Flüstern neben sich, dann rutscht die junge Frau an der Kabinenwand zu Boden, dabei drückt sie ihr das Baby auf den Arm. Ein unbekannter Reflex in ihr greift zu.
Wie fest es sich anfühlt! Gar nicht so zerbrechlich, wie sie sich das vorgestellt hat. Das Kind sieht sie ernst mit großen blauen Augen an, so als überlege es, kann ich ihr trauen? Der Duft von Babyseife und Milch steigt ihr in die Nase. Erinnert sie an irgendetwas. Die Erinnerung fühlt sich gut an. Hatte sie nicht noch vor wenigen Minuten einen strengen Windelgeruch verspürt? Dieses Baby riecht jedenfalls gut. Sie legt es sich in den linken Arm. Nun hat sie die rechte Hand frei. Sie streicht über die Wange des Kindes. Wie zart und seidig sich die Haut anfühlt. Wie makellos feinporig und rosig die Haut aussieht. Das Baby greift mit einer winzigen perfekten Hand nach ihrem Finger und umklammert ihn kraftvoll.
Ein ungekanntes Glücksgefühl steigt in ihr auf. Sie nickt dem Baby zu, spürt zu ihrer Verwunderung, dass sie diesen kleinen Menschen anlächelt. Ernst schaut das Kind zurück und dann plötzlich, wie ein Sonnenstrahl aus einem wolkenverhangenen Himmel hervorschießt, erscheint ein Lächeln auf dem Gesicht des Kindes. Und dieses Lächeln ist für sie! Sie kann die Augen nicht mehr abwenden, die Finger nicht mehr lösen, sie möchte dieses kleine Wesen küssen. Als sie ihren Kopf herabsenkt, kommt ruckelnd der Fahrstuhl wieder in Fahrt. Sie schreckt auf wie aus einem tiefen Traum. Die junge Mutter kommt zu sich und nimmt ihr schweigend das Kind aus dem Arm.
Der Aufzug hält. Die Türen öffnen sich. Sie steigt aus. Zuhause wird sie sich waschen müssen.
Miriam Schulte (2005)